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Wie kommen Puppen zur Welt?

Wenn Sie´s genau wissen wollen, ... , schlafend und übers Fließband.

Ein spannender Artikel aus der DDR-Wochenzeitung "Für Dich" über die Puppenmacher des ehemaligen VEB biggi Waltershausen.

Neues aus Waltershausen


In Waltershausen, das sich in aller Bescheidenheit Wiege der Thüringer Puppenindustrie nennt, sind das in jedem Jahr ganze Puppenvölker, die hier das Licht der Welt erblicken. Mehr als dreieinhalb Millionen, die unter dem Markennamen "biggi" eben soviel Kinder erfreuen. Bei uns und im Ausland.


Wie Jean Effels "Erschaffung der Welt" muss man sich die Puppenproduktion vorstellen: Am Anfang war - nicht der Lehm, sondern Weichplaste, aus der Arme, Beine, Köpfe und Körper in Massen und großer Vielfalt geformt und anschließend von Frauenhänden zusammen gebosselt werden. Sitzt jedes Einzelteil am richtigen Platz, werden die Nackedeis angezogen, frisiert und verpackt. Fertig. Mal sind´s kleine, mal große Puppen, ... . Wie Plan und Kunden es wollen. Alle 30 Sekunden ein Puppenkind vom VEB "biggi", einem der leistungsstärksten Betriebe im Kombinat Spielwaren Sonneberg. Der Schöpfungsakt in Kurzform.


Erste Station: Das Entwurfsbüro


Auf dem Reißbrett ist noch keine Puppe entstanden", meint Herlinde Thiel, "wir Gestalter brauchen etwas Handfestes zum Experimentieren." Der Wachskopf, den sie gerade mit Spachtelholz und Pinzette behutsam bearbeitet, ist für eine neue Puppengeneration bestimmt. Drei, manchmal auch vier Wochen dauert das Modellieren des Musterkopfes. Schon in dieser frühen Phase wird über die Qualität entschieden: Das Wachsmodell, das später in Kupfer abgegossen wird, darf kein Fältchen, kein noch so kleines Loch, keine Unebenheit aufweisen. Nach welcher Vorlage modelliert wird? Frau Thiel zeigt auf das Foto vor sich auf dem Tisch: "Stefan und Sebastian, meine Enkel. Früher waren es die eigenen Kinder." Jeder Gestalter hat seine eigene Handschrift, Herlinde Thiel ist bekannt für ihre geradezu klassisch aus modellierten Ohren. Linsengroßes Plastegranulat ist der Stoff, aus dem die Puppen gemacht werden. In schwerer Arbeit, wie Igor Scharow und Reiner Jäger wissen.


Zweite Station: Die Produktionsbereiche


Sie sind beide Gelierer. Das verflüssigte Granulat gießen sie - automatisch dosiert - in Formen, die nach dem Rotationsverfahren in einem Wärmeofen sieben Minuten ständig hin- und her geschleudert werden, bis die Masse an der Innenseite der Form geliert ist. Währenddessen werden die nächsten Formen gesäubert, neu gefüllt und akkurat verschlossen. Um die gummiweichen Köpfe, Beine oder Arme aus den Formen ziehen, bedarf es kräftiger Männerarme. Und Fingerspitzengefühl, damit nichts einreißt. Nebenan, in der Bläserei, entstehen die Körper. Makellos, einer wie der andere, schöner und ebenmäßiger als beim Menschen. "Puppen dürfen weder einen Leberfleck noch Pickel haben.", sagt Abteilungsleiter Klaus Kleinow, "das meinen jedenfalls die Kunden." Peinlichste Sauberkeit steht daher obenan und ist Voraussetzung für Qualitätsarbeit. Die gleiche Forderung wird beim nächsten Arbeitsgang erhoben, dort, wo die Gestelle entstehen. So nennen die Puppenmacher die kopflose Puppe, der mit viel Geschick, aber noch mehr Kraft, Arme und Beine eingedreht werden. In jeder Schicht von jeder Kollegin zweitausendmal: rechter Arm, linker Arm, rechtes Bein, linkes Bein.

Gleichlaufend mit der Gestell-Fertigung werden in der Nachbarabteilung die Köpfe vervollständigt: Hier werden ihnen blaue ( oder braune ) Augen verpasst, die Braunen druckt ein Automat, dann ein Hauch Rouge auf die Wangen. Schließlich fehlen den Glatzköpfen nur noch die Haare, die ihnen von Frauen der Brigade "Käthe Niederkirchner" in Sekundenschnelle und doch in qualitätsgerecht gleichmäßigen Stichen aufgesteppt werden.


Dritte Station: Die Endmontage


Nun erhält der Torso seinen Kopf, das Gestell verwandelt sich zur Puppe, endlich wird ihre Nacktheit mit Kleidern oder Anzügen bedeckt. Sabine frisiert die Kleinen genau nach Katalog (und Kundenwunsch). Hannelore Nedziella ist dann die letzte am Band, die jeder Puppe in die Augen schaut. Wortwörtlich. Weil manche der Süßen ab und zu schielen oder ihre "Glurren" gar nicht öffnen wollen. Doch auch Frisur, Kleidung und Gesicht werden von der Gütekontrolleurin geprüft. Dreitausendmal in der Schicht. Wenn sie zehn Puppen aussortiert, sind das viel. "Zehn zu viel", betont Hannelore Nedziella, weil in jeder Ausschuss-Puppe vertane Arbeitskraft, verlorene Zeit und vergeudetes Material stecken. Puppenleicht nehmen die 1850 "Biggis" - die fast durchweg gelernte Puppenmacher sind - ihre Arbeit nicht. Einmal, weil sie´s nirgends ist, zum anderen, weil sie wissen, dass Puppen auf dem Weltmarkt äußerst gefragte Artikel sind. Um die vor den Festtagen verstärkte Nachfrage nach diesen Symbolen friedlichen Spiels zu befriedigen, haben die Puppenmacher durch zusätzliche Initiativen dafür gesorgt, dass die Völkerscharen an Waltershäuser Puppen weiter angewachsen sind. Dieser Aufwärtstrend hält auch 1985 an. Die zwei zusätzlichen Tagesproduktionen, die im 84er Wettbewerbsprogramm standen, wurden erfüllt und sind nun Bestandteil der Ziele für das neue Jahr. Das bewährte Sortiment ergänzen neue Modelle, zu denen auch das Pärchen auf unserem Titelbild gehört, oder die "Einschlafhilfen" (so der betriebsinterne Ausdruck) - Püppchen mit Spielwerk im Bauch, die die Kinder in den Schlaf singen soll.


Ein Rückblick


Waltershausen ist die Wiege der Thüringer Puppenindustrie. Die Frauen und Männer vom VEB "biggi" führen die Tradition fort, die seit dem Mittelalter in Südthüringen gepflegt wird. Damals waren es Holzfäller, die während der langen Winterabende Puppen schnitzten, mit Heidelbeersaft bemalten und verkauften, um den Lebensunterhalt für ihre Familien zu verdienen. Aber nicht den schnitzenden Waldarbeitern verdankt Waltershausen seinen Ruf als Puppenstadt, sondern einem russischen Kürassier namens Josef Kaczmarek, der nach den Befreiungskriegen 1812/13 in Waltershausen hängengeblieben war. Der Reitersmann experimentierte mit Leinmehl und allen möglichen Kleistern und kam schließlich auf eine Mischung aus aufgeweichtem Papier, Lumpenfasern, Roggenmehl und Schlämmkreide, die billig war, sich gut verarbeiten ließ und knochenhart wurde. Daraus stellte der Kürassier Köpfe und Figuren her. Mehr zum Spaß und zur Freude der Kinder, denen er sie schenkte. Andere witterten ein Geschäft und gaunerten ihm die Erfindung ab. Sie verdienten das große Geld. Den "Frätzchenmachern", wie die Puppenmacher genannt wurden, blieb ein Hungerlohn nach 15- bis 16stündiger Arbeitszeit.


Text: Conrad Tenner

Fotos: Martina Kaiser

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