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Das geht bis in die Puppen*

*Sehr weit, sehr lange gehen. Berliner Redensart, entstand zurzeit Friedrich II., der Statuen aus der antiken Götterwelt - von den Berlinern Puppen genannt - im damals weit vom Stadtkern entfernten Tiergarten aufstellen ließ. Die Wendung übertrug sich von der räumlichen auf die zeitliche Ausdehnung.


Puppenmutter und Sonneberger Puppenmacher - Ein spannender Artikel aus der DDR-Wochenzeitung "NBI" 51/1973 (Neue Berliner Illustrierte) über die Puppenmacher aus Sonneberg.





"Hier ist sie ja!" Die Mitarbeiterinnen des Sonneberger Spielzeugmuseums stehen überrascht vor einer Wachsgliederpuppe - Mutter mit Kind - die wir aus den reichbestückten Vitrinen für unser Foto wählten. Sie wussten bis dahin nicht, dass die Registriernummer, im Spitzenunterrock sorgsam verborgen, das seltene Exponat so identifiziert: Diese Puppe wurde 1867 für die Pariser Weltausstellung gefertigt. Da zurzeit im berühmtesten Kunstmuseum - dem Pariser Louvre - die schönsten Stücke der Sonneberger Puppensammlung gezeigt werden, bleibt die Frage: Ist diesen beiden Wachsbleichen die Überhundertjahrfeier in der Seine-Stadt durch die Puppenlappen gegangen? Wie auch immer! Auch ohne sie erregten die "Sonneberger", die sich erstmals innerhalb einer so umfangreichen Spielzeugkollektion aus vier Jahrhunderten im Ausland zeigten, im Louvre Aufsehen. Immer mal wieder mussten die Pforten der Ausstellung wegen Überfüllung geschlossen werden, und die "Humanité" berichtete sogar von einem Verkehrsstau am Eröffnungstag. Puppen können also Interesse wecken und zugleich Verwirrung stiften. Beides haben wir auf unserer Reporterfahrt ins Thüringer Sonni-Puppen-Kombinat ausgiebig festgestellt.



Meine ersten sechs Puppen-Irrtümer


Da glaubte ich, Puppen, die auf den Markt kommen, müssten einen Namen tragen. Irrtum Nummer 1. So viele Namen gibt es gar nicht. Die Puppen tragen Registriernummern, und die nehmen innerhalb der etwa 30.000 Artikel im DDR-Spielzeugangebot eine beträchtliche Höhe ein. Da dachte ich, sie werden nach Rotbackigen, Blondhaarigen, Blauäugigen unterschieden. Irrtum Nummer 2. Der Fachmann stuft sie in Größen ein, zwischen 25 und 60 Zentimeter, alle 5 Zentimeter ein anderer Balg und ein anderer Preis. Da meinte ich, die Laufpuppe sei das Neueste im Angebot. Irrtum Nummer 3. Schon Aristoteles (350 v.u.Z.) spricht in "De anima" und in "Politica" von einer automatischen Venus, und im "Gastmahl" des Petronius ist von einer silbernen Puppe die Rede, die sich wie ein Mensch bewegen kann. Da schlussfolgere ich, wenn so viel bekannt ist, müsste auch das Alter der Spielpuppe genau zu bestimmen sein. Irrtum Nummer 4. Heinrich Schliemann entdeckte zwar in einer der unteren Brandschichten Trojas die vielleicht älteste griechische Puppe, aber man kann nur vermuten, dass sie im zweiten Jahrtausend vor unserer Zeit entstanden ist. Da setze ich voraus, dass wenigstens der Ursprung des Namens Puppe keine Zweifel offenlässt. Irrtum Nummer 5. Manche führen den Namen auf Poppäa Sabina zurück, die Frau des Nero, die täglich in Eselsmilch badete, und auch sonst an Geziertheit und Putzsucht, ihresgleichen sucht. Andere schwören auf den mittellateinischen Wortstamm puppa, kleines Mädchen. Im Französischen wurde poupée daraus, im Deutschen zwischen 17. und18. Jahrhundert Puppe. Vorher hieß sie hier Docke - was uns Martin Luther (1483-1546) bezeugt, wo er mit "hübsche Tocken" auf die weibliche Eitelkeit anspielte. Da zweifelte ich nicht im Geringsten mit der Sonneberger Puppen-Spruchweisheit seine Richtigkeit hat: Armla - Bäla - Wanstla - fertich is mei Arnstla! Irrtum Nummer 6. Was da so viel wie, "Puppen machen sei ein Kinderspiel" heißen soll, war bereits in der 300jährigen Thüringer Tradition nur eine verbale Beschönigung härtester Kinderarbeit. Und es ist auch heute noch nicht wahr. Puppen machen ist Schwerarbeit.



Wo Köpfe rollen


Die Chemie hat uns schon lange das Wundern gelehrt. Und so gesehen ist auch der "Stoffwechsel" eines Puppenkörpers nicht sonderlich faszinierend: ein Schluck PVC-Paste in die Form, Ofenhitze 240 Grad, Wasserbad, fertig sind Kopf und Arme (Bauch und Beine aus Polyäthylen werden automatisch hergestellt). Aber dies rosigen, puppenleichten Köpfe erblicken gleichsam in einem Kreißsaal des Schwermaschinenbaus die Kombinatswelt. Zwischen Hitze und Wasserdampf, Pressluft und dem unerbittlichen Rhythmus der Zeit. Die Männer hier - ihr Verhältnis zu den Frauen des Kombinats beträgt 1:2 - arbeiten dreischichtig. Sie lächeln höflich inmitten des mörderischen Krachs über jede Frage, die man ihnen stellt. Wenn sie ihren Lärmschutz aus den Ohren genommen haben, lachen sie noch überzeugender: "Puppen?" sagen sie. "Na immer! Mit unseren Puppen kommen wir auf gutes Geld."





Großer Bahnhof für Sonnis


Puppenmacher sind angesehene Leute. Ihre Produkte sind für unseren Staat in vielerlei Hinsicht bedeutsam. Ihre oft Tausende von Mark Gewinn bringenden Neuerungsvorschläge für diese Industrie, in der mit einem Drittel Pfennig gerechnet wird, werden hoch bewertet. Das alles war nicht immer so. Genau genommen hängt es mit prominenten Gästen der Partei- und Staatsführung zusammen, die in den sechziger Jahren nach Sonneberg kamen, sahen und veränderten. Ein Dokument zur Entwicklung der Spielzeugindustrie in der DDR entstand und wurde 1966 wirksam. Seitdem gibt es erstmals das Berufsbild eines Puppenfacharbeiters mit einer vielseitigen Lehre, die im gewissen Maße Berufe wie Modegestalter, Industrieschneider, Friseur einschließt. Seitdem gibt es Rationalisierung und Intensivierung dieser Industrie in einem Umfang, den zwei Tatsachen sichtbar machen. Erstens: Die Produktion verdoppelt sich im genannten Zeitraum. Zweitens: Auch heute noch, nach dem Zusammenschluss in der Erzeugnis-Gruppe Puppen und Plüschspielwaren - deren Leitbetrieb der VEB Kombinat "Sonni" ist -, wird in mehr als 300 Betrieben der DDR mit über 24.000 Werktätigen Spielzeug hergestellt. Wobei allein die Puppenproduktion in mehr als 50 Betrieben erfolgt. Die DDR zählt im Prokopfverbrauch an Spielzeug zu den führenden Ländern. Ein neuerbauter Containerbahnhof im etwa 30.000 Einwohner zählenden Sonneberg regelt den reibungslosen Verkehr zwischen Produzent und Konsument. Jährlich gehen allein etwa 150 Container, 10 Güterwagen- und 100 LKW-Ladungen Puppen in den Binnenhandel. Der Exportanteil ist traditionell und hoch. Zwei Adjektive, die aufhorchen lassen.



Das zerstörte Gesicht


Schon einmal, Ende des 19. Jahrhunderts, infolge der Chicagoer Weltausstellung 1893, blühte das Sonneberger Exportgeschäft. Hauptabnehmer: die Kaufhäuser Nordamerikas. Unangenehme Kunden, denen nichts ausgefallen genug war. So entstanden im biederen Sonneberg Puppen-Monster wie "Doppelbaby", Körper ohne Beine, aber mit zwei Köpfen, oder "Metamorphose", Puppe mit mehrgesichtigem drehbaren Kopf. Heute 80 Jahre später, ist der internationale Markt von nicht weniger monströsen Puppen bevölkert. "..." Da gibt es "Barbie", ein Sexsymbol, 28 cm groß, komplett von der Kleidung internationaler Modeschöpfer "..." Die Frage, westlicher Kritiker, ob die Puppe ihr Gesicht verloren hat, wäre anhand solcher Beispiele beantwortet. Nicht so die Sonni-Puppe. Sie wird in fast 50 Ländern gelobt und geliebt, obwohl oder gerade, weil auch sie immer aufs Neue zwei Prüfungen besteht: Sie muss im engeren Sinne ökonomisch und modern sein (internationale Entwicklung: schlanker Typ, üppiger Haarschopf) und im weitesten Sinne hohen pädagogischen Ansprüchen genügen. Denn durch das Spielen, der frühen Form der geistigen Bildung, entdeckt und erobert das Kind die Welt. Die Puppe soll in ihm das rechte Verhältnis zum Mitmenschen wecken. Die Last und Verantwortung tragen die Mitarbeiter aus der Forschung und Entwicklung des Kombinats. Ihre Aufgaben, wird gesagt, gehen wirklich bis in die Puppen.



Ein Säugling als Modell


Gleich drei Babys werden bei Gestalterinnen der Forschungs- und Entwicklungsabteilung erwartet. Die werdenden Mütter haben ihren gesetzlichen Schwangerschaftsurlaub angetreten, nachdem sie einen innerbetrieblichen Vertrag eingegangen sind. Jede wird von ihrem Erstgeborenen einen Puppenkopf modellieren, nach den goldenen Gestaltungsregeln: Kopf verniedlichen, Augen und Mund zusammendrängen, Stirnpartie vergrößern. "Die Babys", stöhnt Abteilungsleiter Waldemar Bambl, "sie sind beliebt und machen uns Sorgen". Denn weder Mutterstolz noch er allein werden entscheiden, ob es bald auch drei neue Puppenbabys geben wird. Ein kluger Mensch hat einmal behauptet, die Geschichte der Puppe spiegele zugleich ein Stück Menschheitsgeschichte wider. Es muss hinzugefügt werden: auch ein beispielhaftes Stück Wirtschaftsalltag, das vor allem Planung und Koordinierung heißt. Eine fix und fertige Puppe hängt an Kooperationsketten und Zulieferbetrieben, die wohl mit zu den umfangreichsten zählen. Der eine produziert die Augen, der andere das Haarmaterial. Da werden Schuhe gebraucht und Kartonagen, Mechanik für die Lauf- und Stimmen für die Sprechpuppen, moderne Gewebe für die Bekleidung und Anregungen vom Deutschen Modeinstitut. Da werden jährlich etwa 300 bis 400 neue Kleider entworfen und zum Schneidern - das in Heimarbeit geschieht - vom Kombinat bis ins Osterzgebirge, die Rhön oder den Spreewald transportiert. Doch das ist schon der Kooperation zweiter Teil. Ein Puppenvorleben beginnt mit einem Funktionsmuster. Es wird im Volksbildungs- und im Gesundheitsministerium beraten, gesellschaftlichen Organisationen wie dem Pionierverband vorgestellt, in Kindergärten und Schulen getestet, vor Ökonomen verteidigt, bis es von den Mitarbeitern des Amtes für Standardisierung-, Messwesen und Warenprüfung den letzten Gütestempel erhält: Messewürdig. Jetzt erst kommen die Einkäufer, und sie sagen ja oder auch nein, wie zum Beispiel zum Puppenmodell einer Studentin der Hochschule für industrielle Formgestaltung Burg Griebenstein. Es hatte ihnen einen zu dicken Popo und zu krumme Arme und vor allem einen zu kahlen Kopf. "Puppen ohne Haare gehen nicht." (internationale Beobachtung: Haare sind ein wichtiges Spielelement). Das und noch manches wissen die Einkäufer. Sie wissen es von ihren Kunden, den Erwachsenen, die die Puppen kaufen. Und die wissen leider nicht immer von den Kindern, was tatsächlich geht. Aber auch wenn sich dieser Kreislauf harmonisch schlösse, könnten nicht alle individuellen Wünsche und Bedarfsgesichtspunkte erfasst werden. Und so macht bei den Gestaltern nicht ohne eine gewisse Nachdenklichkeit die folgende kleine Episode die Runde: Bei einer Kombinatsbesichtigung bekommt die Frau des Moskauer Oberbürgermeisters das neueste Modell einer Laufpuppe überreicht. Wenig später bittet sie schüchtern, ihr diese doch in eine "normale" Puppe umzutauschen. "Hübsch" sagt sie, "aber da habe ich gerade einen so drolligen Kopf gesehen, ein Lausbubengesicht mit abstehenden Ohren, ob man mir nicht vielleicht diesen...?" Was Wunder, dass in diesen Tagen, da viele unserer Jüngsten beglückt durch ihre Puppen im Bett liegen, "Sonni"-Kombinatsdirektor Werner Schunk auf die Frage, was das Stichwort Puppe bei ihm assoziiere, lakonisch antwortet: "Schlaflose Nächte, schlaflose Nächte."


Text: Christa Otten

Fotos: Klaus Morgenstern




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